Der Nachruf der Turner des TV Holzheim
Noch keine 19 Jahre alt - die kurze Geschichte des jüdischen Mitbürgers Albert Weinberg aus Holzheim
Eine Todesanzeige ist eigentlich nichts Besonderes. Aus einem traurigen Anlass ein stilles und öffentliches Gedenken der Familie oder Angehörigen an einen Verstorbenen. Doch die Nachruf-Anzeige, die im Namen des Turnverein 1908 Holzheim am 16. Dezember 1920 im Gießener Anzeiger veröffentlicht wurde, ist außergewöhnlich. Denn sie galt Albert Weinberg, einem jüdischen Sportkameraden aus Holzheim.
Wer vor der Holzheimer Evangelischen Kirche steht und diese von der Hauptstraße aus frontal in Augenschein nimmt, der schaut unwillkürlich erst einmal auf das mächtige Kirchenschiff und den nicht minder imposant in den Himmel ragenden Glockenturm. Danach fällt der Blick vielleicht auf den auf der Außenmauer sich stolz reckenden Löwen. An dieser Außenmauer sind, deutlich sichtbar, 42 steinerne Namenstafeln angebracht, die an die Gefallenen des 1. Weltkriegs aus Holzheim erinnern. Ganz rechts auf der Tafel, der letzten der 21 auf dieser Seite neben der dazugehörigen Inschrift, steht der Name Albert Weinberg. Die weiteren eingravierten Informationen auf dieser Tafel sind so gut wie nicht mehr zu erkennen.
Die Tafel erinnert an einen aus Holzheim stammenden jüdischen Mitbürger. Dass er den Abschluss der Gedenktafeln-Reihe bildet, hat einen ganz profanen Grund. Albert Weinberg war der letzte heimische Gefallene des 1. Weltkriegs. In doppelter Hinsicht. Zum einen starb er am 30. Juli 1919 als Unteroffizier in einem Kriegsgefangenenlager in Sibirien, zum anderen dauerte es anderthalb Jahre (!), bis die Nachricht seines Todes den Weg nach Holzheim gefunden hatte.
Vom (kurzen) Leben Albert Weinbergs liegen nur wenige Informationen vor. Dr. Sabine Sander, eine aus Holzheim stammende und in Bad Soden/Taunus lebende Historikerin, hat sie gesammelt. In ihrem Beitrag für die aktuelle Ausgabe der Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins (OHG) hat sie diese aufgearbeitet. In einem 102-seitigen Betrag über die Familie Weinberg („Jüdisches Leben in Oberhessen, Die Familie Weinberg/Herz in Holzheim, Kreis Gießen“) gibt sie Einblicke in das Leben jüdischer Mitbürger in Holzheim vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Nationalsozialismus.
Albert Weinberg lebte in einer Zeit in Holzheim, als auch hier der Antisemitismus zum, sagen wir mal, guten Umgangston gehörte. Schon seit 1890 zeigen die Wahlergebnisse, dass die Antisemitische Volkspartei unter Führung Otto Böckels auf großen Widerhall stieß. (71,5 Prozent der Stimmen gingen 1890 in Holzheim an besagte Partei, im Deutschen Reich 0,7 Prozent.) Ähnliche Rückschlüsse lassen sich aus den Wahlergebnissen bis in die 30er Jahre ziehen.
Zwischenzeitlich lag der junge Soldat wegen einer Augenverletzung oder einem Augenleiden im Lazarett. Nach der Rückkehr an die Front und einem Gewehrschuss in den rechten Arm und einem erneuten Lazarett-Aufenthalt kam er, inzwischen Unteroffizier, zur 10. Kompanie des Reserve-Infanterie-Regiments 3, das im Osten operierte: erst in Kurland, dann in Galizien. Am 16. September 1916 geriet Albert Weinberg in der Westukraine in russische Kriegsgefangenschaft. „Drei Tage vor seinem 19. Geburtstag“, wie Sabine Sander anmerkt. Von dort kehrte er nicht mehr lebend nach Hause zurück.
Um noch einmal auf die eingangs erwähnten Tafeln zurückzukommen: Neben Weinberg verloren 40 weitere Holzheimer ihr Leben im 1. Weltkrieg, die meisten starben in Frankreich. Ein lebend dem Krieg entkommener Heimkehrer starb Ende des Jahres 1921 an seiner Kriegsverletzung, womit das 42. Kriegsopfer notiert wurde.
Albert Mehl
Dass Weinberg ein besonderer junger Mann gewesen sein muss und besonderes Ansehen im Ort genossen haben muss, davon zeugt besagte Nachruf-Anzeige. Denn seine ehemaligen Sportkameraden vom TV Holzheim setzten, als sie vom Tod ihres früheren Freundes erfuhren, eine Nachruf-Anzeige in die Ausgabe des 16. Dezember 1920 des Gießener Anzeigers. Was mehr als eine noble Geste für den am 1. August 1908 von 55 jungen Männern gegründeten Turnverein Holzheim darstellt. Oder auch eine irritierende Information ist aus einer Zeit, als in einem typischen Örtchen des ländlichen Raums in Mittelhessen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Antisemitismus das Alltagsleben mitprägte.
So lesenswert auch die Ausführungen von Sabine Sander sind, die Quellenlage im Blick auf Albert Weinberg ist dünn. Geboren am 19. September 1897 in Holzheim als Sohn der Eheleute Moses und Katinka Weinberg hatte er noch eine sechs Jahre ältere Schwester Lilly. Auch wenn ihm noch drei Wochen zum Mindestalter von 17 Jahren fehlten, meldete sich Albert Weinberg 1914 freiwillig zur Armee und begann am 1. September seine Dienstzeit. Lesen wir dazu bei Sabine Sander: „Außer Albert Weinberg leisteten noch zwei andere Holzheimer Juden Kriegsdienst (Anm. d. Red.: Isaak Bamberger und Adolf Lindheimer), die beiden waren allerdings doppelt so alt wie er und schon Familienväter. Seine Einheit war das Infanterie-Regiment Kaiser Wilhelm Nr. 116, 6. Kompanie; Garnison war die Neue Kaserne in Gießen. Am 7. September war das Regiment mit über 3400 Mann an die Westfront gerückt, er rückte später nach.“
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